Unsere Tradition

Wie in Marburg vielfältig praktiziert, so auch auf dem Gebiet des Radfahrens, ging die Initiative zur Ausübung dieses Sportes von Angehörigen der Philipps-Universität aus. Oskar Wattenberg, cand. med, aus Bremen sowie die cand. chem. Schock, Gerland und der Schotte Mac G­regor gründeten am 18.05.1885 den ersten Marburg­er Radsportverein, den

 

 „Marburger Radfahrer Club 1885“

als reine akademische Vereinigung. Oskar Wattenberg wurde der 1. Vorsitzende. Dass als Gründungsmitglied ein Schotte verzeichnet ist und in den folgenden Jahren noch einige englische Studenten in der Mitgliederliste auftauchten, ist für den Kenner der allsportlichen Entwicklung nicht verwunderlich. Zwar waren die ersten radsporttreibenden Vereine der Welt in Deutschland gegründet worden (z.B. 1869er Altonaer Bicycle Club), die Schmiede der Fahrräder stand zu diesem Zeitpunkt aber in England. Dort wurden die besten Fahrmaschinen, wie sie damals noch hießen, gebaut und weiterentwickelt. Vorbereitet durch die Existenz eines im Jahre 1878 in England gegründeten

 Cyclist’s Touring Clubs,

dessen Distrikt 31 das Gebiet des Deutschen Reiches umfasste, schlossen sich vielerorts Jünger des Rad­sportes in Clubs zusammen, um neben dem sportlichen Vergnügen auch Vorteile als Mitglied dieser Vereinigungen zu erlangen. Im Jahre 1885 vereinte der CTC bereits über 15.000 Mitglieder weltweit und regelte für sie Interessenvertretungen, die Verbindungen der Mitglieder untereinander, aber auch die Beherbergungsmöglichkeiten während der „Radfahr-Reisen“. Über 2.000 Hotels in Europa hatten den im CTC vorgeschriebenen reduzierten Tarif für Mitglieder angenommen. 

 

Von den Marburger akademischen Gründungsmit­gliedern und bereits ab 1886 hinzugestoßenen bürgerlichen Mitgliedern schreibt die Chronik, dass sie zumeist Fabrikate englischer Produktion ver­wendeten. Von dem 1. Vorsitzenden Wattenberg weiß sie zu berichten, er habe mit seinem Hochrade die Brockenspitze im Harz „erfahren“. Als erste bürgerliche Mitglieder des MRCs waren der Bankier Zeiße, der Pianofortefabrikant Carl Müller, Universitäts-Mechanikus Fritz Engel, Kaufmann Carl Dörlam, Fabrikant Jakob Holzhauer, ein Agent ilhelm Barndt aus Schlesien und in der Folge wei­tere Marburger und Auswärtige hinzugekommen.

Inter­essant war auch die Zusammenstellung der Räder, so fuhren die Studenten Hochräder, Herr Müller ein Känguruh und Herr Zeiße ein Dreirad, dessen riesig hohen Ruder überall Aufsehen hervorriefen. In den Anfangsjahren des Bestehens wurden in erster Linie Sport- und Wanderfahrten durchgeführt. Anlässlich einer Herrenfestlichkeit im Café Quentin (Steinweg) in 1889 wurde ein Kunstreigen gezeigt, der mit viel Beifall aufgenommen wurde. Durch den Erfolg beflü­gelt trat der MRC im gleichen Jahr mit 20 Mitglie­dern dem Deutschen Radfahrer-Bund bei, eine natio­nale Dachorganisation, die bereits 1884 gegründet worden war (Vorgänger des heutigen Bund Deutscher Radfahrer). In den Nordbezirk des Gaues 9 aufgenom­men, entwickelte sich in den folgenden Jahren eine rege Vereinstätigkeit. Ein Hauptanliegen der dama­ligen Zeit war, Gleichgesinnte anderorts in Vereinen zusammenzufassen. So vermeldet die Chronik, dass durch die Initiative des Marburger Radfahrer Clubs an folgenden Orten Radfahrvereine ins Leben gerufen wurden: Butzbach, Wetzlar, Biedenkopf, Laasphe und Alsfeld, der Gauvorstand soll damit äußerst zufrie­den gewesen sein.

1891 wurde das erste Straßenrennen in Marburg durch den MRC ausgerichtet, außer der Mitteilung, dar hierbei erstmals ein Frankfurter Fahrer auf Pneuma­tiks (Luftreifen) gestartet sei, fiel der Sieg trotzdem dem auf Vollgummireifen fahrenden Clubmit­glied F. Seybold zu, über den Streckenverlauf und die Zuschauerresonanz ist leider nichts ausgesagt. Und doch muss dieses Rennen bei einigen Herren einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Spontan schlossen sie sich zum

Marburger Radfahrer Verein 1891

zusammen. Es waren acht Marburger Bürger, die vorher keinen Kontakt zu dem MRC hatten. 

 

Für den Marburger Radfahrer Club folgten nun Jahre mit regem sportlichen und gesellschaftlichen Verkehr mit Nachbarvereinen im Gau 9. Die sportlichen Akti­vitäten führte die Mitglieder zu umfangreichen Wan­derfahrten in den Taunus, Westerwald, die Eifel, den Hunsrück, an den Rhein, in das Moseltal, den Oden­wald und Schwarzwald. Die größten Wanderfahrten wur­den durch Österreich, Italien und die Schweiz ge­führt – die Chronik vermeldet Tage und Wochen unvergesslichen Genusses für alle Teilnehmer.

Nachdem im Jahre 1892 der

Radtouristen-Club Wanderlust Marburg

Ein Bild aus dem Jahr 1927
Ein Bild aus dem Jahr 1927
 
gegründet wurde (der in 1894 bereits wieder seine Tätigkeit aufgab), klagt der Chronist der damaligen Zeit über Nachwuchsmangel. Er beschreibt den fehlen­den Sportgeist im MRC, und dass sich junge Radsport­ler „dem damals sehr regen Marburger Radfahrer-Ver­ein 1891“ anschließen würden. Die sportliche Er­folgsära endete dann auch mit einem Straßenrennen von Marburg nach Biedenkopf, der MRC erhielt hier den 3. Preis. Wie bereits erwähnt, übten immer we­niger Mitglieder sportliche Aktivitäten aus, auf ge­sellschaftlichem Gebiet bemühte man sich jedoch immer den Anschluss zu halten. Bei den Bundesfesten des Bundes Deutscher Radfahrer in Frankfurt, Nürn­berg, Erfurt, München, Graz, Hannover, Bremen, Ham­burg, Stettin und Köln war immer eine Abordnung des Marburger Radfahrer Clubs vertreten. Hier scheinen insbesondere die Mitglieder Haustein, von Borries und Engel sich große Verdienste erworben zu haben. 

 

Der Erste Weltkrieg ließ dann den Verein ruhen. Erst im Sommer 1921 rief man ihn wieder zu Aktivitäten, nachdem sich das Nachkriegsleben wenigstens einiger­maßen wieder normalisiert hatte und die Freude am Sport wuchs, 32 Mitglieder zählte damals der MRC 1885.

Der in 1891 gegründete Marburger Radfahrer Verein wuchs nach anfänglichen Schwierigkeiten nach der Jahrhundertwende beständig. Trotz der „Konkurrenz am Platze“ und der Stagnation beim MRC, sind in beiden Vereinschroniken keine Rivalitäten verzeichnet. Das gesellschaftliche Nebeneinander schloss ein sport­liches Miteinander nie aus. So nahmen bei allen sportlichen Veranstaltungen des einen Vereines Mit­glieder des anderen teil und pflegten somit Gemein­samkeiten.

Die zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhun­derts mit ihren wirtschaftlichen Problemen gingen an beiden Vereinen, dem MRC und MRV nicht spurlos vor­bei. Große sportliche Erfolge blieben aus, wenn­gleich in beiden Vereinen ein großartiger Zusammen­halt bestand.

Um gemeinsam Erfolgen zuzustreben, beschlossen beide Vereinsvorstände im Jahre 1935 ihre Saalsporttätig­keiten zusammenzulegen, am 21.06. 1938 erfolgte dann der Zusammenschluss der Vereine, nach beiderseitigem Mitgliederbeschluss. Der

Radsportverein 1885/91 Marburg e.V.

war entstanden. 

 

Allerdings machte dann der in 1939 beginnende 2. Weltkrieg der Aufbauarbeit ein Ende. Vorher wurden jedoch noch die vereinseigenen Sportgeräte, Kunst- und Radballmaschinen vor dem Zugriff des Staates, bzw. der Reichssportkammer in Sicherheit gebracht.

Diese gutverwahrten Saalfahrmaschinen bildeten dann auch den Grundstock für einen neuen Anfang im Jahre 1947. Die Übungstätigkeiten im Kunstfahren und Rad­ball wurden wieder in der von der Stadt Marburg zur Verfügung gestellten Turnhalle der Nordschule aufge­nommen. In dieser Zeit des Wiederaufbaues unseres Landes ist die Leistung der wenigen zu würdigen, die dem Krieg entronnen, dem Verein neues Leben verlie­hen. Heinrich Wick II und Fritz Bertram sind hier für die Vereinsleitung zu nennen, während Hans Müh­lich als Kunstfahrwart, Hans Bender als Radballfach­wart und Wilhelm Döringer als Kunstfahrtrainer her­ausragen. Letzterer war es dann auch, der für erste Sporterfolge des RSV 1885/91 Marburg sorgte, Oskar Döringer und Hannelore Nau errangen mehrfach Hessen­meistertitel im Einerkunstfahren, belegten vordere Plätze bei den Deutschen Meisterschaften und er­fuhren im Zweierkunstfahren in der Klasse der männ­lichen Jugend (!) ebenfalls Meistertitel in Hessen. Hannelore Nau hat dann im Jahre 1954 den Titel einer Deutschen Meisterin erringen können, allerdings war sie damals, mit ihren Eltern nach Fulda verzogen, nicht mehr Mitglied unseres Vereins.

In diese Zeit nach dem Kriege fielen auch noch ande­re erwähnenswerte Aktivitäten. Das Rennen „Rund um das Staatsarchiv“, nach Sechstageart als Mann­schaftsrennen ausgetragen, sorgte für zusätzliche Attraktionen im Radsport in Marburg. Eine Hessische Bergmeisterschaft der Radrennfahrer, vom Wilhelms­platz zum inneren Schloßhof führend, und als Einzel­zeitfahren abgewickelt, beendete wohl die Sportära des RSV 1885/91 Marburg. Inzwischen hatte sich auch ein spezieller Rennsportverein, der RC Endspurt 1950 Marburg entwickelt, dessen anfängliche Erfolge schon bald nachließen, 1965 endet dann auch seine sport­liche Tätigkeit.

Ein Bild aus dem Jahr 1960 

Das Jahr 1955 sah eine weitere Vereinsgründung, ei­nige Mitglieder trennten sich vom RSV 1885/91 Mar­burg und riefen mit anderen Gründern den Marburger Radclub 1955 ins Leben. Auch dieser Verein beendete seine sportliche Tätigkeit gegen Ende der sechziger Jahre. In der Zwischenzeit wurde beharrlich im Marburger Radsportverein Kunst- und Radballsport betrieben. Mehrfach wurden Mannschaften der Schüler, Jugend, aber auch der Aktiven (über 18 Jahre) im Vierer­- und Sechserkunstfahren Hessenmeister, dieses führte dann auch zur Teilnahme an Deutschen Meister­schaften. Lediglich die Radballer taten sich in ihren Klassen schwer, über die Bezirksklasse waren keine höheren Spielebenen zu erreichen, dabei muss aber auch erwähnt werden, dass der Bezirk Lahn damals, bis in die nahe Vergangenheit, ständig hessische und deutsche Meister in dieser Sportart aus Krofdorf stellten, die selbstverständlich die Radballszene vollständig beherrschten. 

 

Im hundersten Jahr seines Bestehens konnte der Radsportverein 1885/91 Marburg e.V. geordnete Verhältnisse, einen treuen Mitgliederbestand und eine rege Sporttätigkeit aufweisen. Die aktiven Mitglieder, wenn auch nicht gerade Spitzensportler und Spitzenleistungen, zeigten ein gutes Kunstradniveau und auch die Radballer gaben zu Hoffnungen Anlass. Zwei Übungsleiterinnen in Zu­sammenarbeit mit Einzeltrainerinnen vermittelten dem jungen Nachwuchs die nötigen Fertigkeiten zur Be­herrschung des Kunstrades. So wurden jährlich Kreis­meisterschaften mit den anderen Radsportvereinen im Landkreis Marburg-Biedenkopf ausgetragen, Bezirks­meisterschaften beschickt und die jeweiligen Besten nach ihrer Qualifizierung zu Hessenmeisterwettbewerben gesandt. Pokal-, Nachwuchs- und Vergleichswett­bewerbe im Kunstfahren und Radball rundeten die jähr­liche saalsportliche Vereinstätigkeit ab. Aber auch auf dem „Trimm Dich“ Sektor war der RSV 1885/91 Marburg tätig. Seit den 1970er führte er das schon zur Tradition gewordene Marburger Volksradfahren durch, welches auf jährlich wech­selnden Routen in Zusammenarbeit mit dem städtischen Sportamt das Marburger Sportprogramm für „Jedermann“ bereicherte. Vereinsinterne „Velo-Sonntage“ in Form von Wanderfahrten führten die Mitglieder und andere Radfahrbegeisterte immer wieder hinaus ins Marburger Land, um als Freizeitsportler Sonntag vormittags zwischen 30 und 40 km zurückzulegen.

Eine große Stütze des Vereins.

Im Zuge dessen entwickelte sich daraus die mittlerweile landesweit bekannte Radtourenveranstaltung „Schimmelreitertour“, die zu einer Marburger Institution wurde. Jährlich wird die Schimmelreitertour im Mai ausgetragen. Hunderte Radler aus nah und fern trafen und treffen sich zur Schimmelreitertour, um in Gruppen oder Einzeln Strecken zwischen 40km und 160km durch das Marburger Umland zu bewältigen.

Neben dieser Breitensportvariante wurde in den achtziger und neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts der Rennsport im RSV 1885/91 Marburg neubelebt. Bis heute konnten die Radsportler in zahlreichen Disziplinen des Rennsports Titel erringen. Der Rennsport ist heute eine große Stütze des Vereins. Ebenso erfolgreich entwickelte sich die Sparte BMX, die noch immer im Verein angeboten wird, mittlerweile jedoch nur noch von wenigen Mitgliedern ausgeübt wird. Hingegen der Saalradsport führt ein Schattendasein im Verein und wartet noch immer auf seine Wiederbelebung.

Der Verein zeigt heute stabile Mitgliederzahlen, solide Finanzen und ist somit gut für die Zukunft aufgestellt. Wie jeder Verein lebt jedoch auch der RSV 1885/91 Marburg e.V. von der Initiative seiner Mitglieder. Dabei ist der Verein auch ein Abbild der Gesellschaft und muss damit leben, dass die Initiativkraft seiner Mitglieder steigerungsfähig ist.